4. Yungays Gesichter – 15. Januar2019

Ich frag mich manchmal, was dahintersteckt. Hinter diesem Gesicht, das in der Bahn den Blickkontakt aufrechterhält, als wäre es ein Spiel. Oder hinter dem, das mir den Preis für ein Kilo Avocados mit erstaunlicher Kraft entgegenbrüllt. Oder dem, das mich im Park um Verzeihung bittet, weil es mich nicht beim Lesen hatte unterbrechen wollen, aber fragen wollte, ob ich ein paar Münzen übrig habe. Und ich frag mich, was dann wohl als nächstes passiert. Nicht sofort danach, sondern nachdem diese Begegnung ein Ende gefunden hat. Wenn wir unsere fünfsekündige Freundschaft aufgeben und uns wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen sagen müssten, um dann den Rest des Lebens wieder getrennt voneinander weiterzuleben. Es sei denn einer weigert sich und es schwappt statt “Wiedersehen” ein “Hallo, erzähl doch mal deine Lebensgeschichte.” raus.
Und überraschend oft kommt dann tatsächlich ne Lebensgeschichte dabei rum! Ivan erklärt sich bereit und nimmt auf der Nachbarbank im Park platz. Also warum braucht er Münzen?
Er komme aus São Paulo in Brasilien und sei nach Chile gereist, um in den Bergen in einem Skiressort zu arbeiten. Das hat auch ganz gut geklappt, aber die Skiressorts sind natürlich nur in der Skisaison geöffnet und deshalb musste er vom Berg runter, als der Sommer kam. Er ist nach Valparaiso an die Küste gefahren, um dort eine neue Arbeit in der Touristikbranche zu finden. Eines Abends am Strand haben fünf Leute seinen Rucksack geklaut, in dem alles drin war. Geld, Pass, Kleidung weg. Ausreise nicht mehr möglich. Legale Arbeit nicht mehr möglich. Also zurück gehts nach Santiago. Irgendwie überleben und das mittlerweile schon seit Wochen. Hast du denn keine Familie, die dir helfen kann? Doch, in Brasilien. Hat ein paar wenige Male mit ihnen telefoniert. Sie können ihm kein Geld schicken, weil er es ohne Pass oder Karte nicht abheben kann und zu ihm reisen geht auch nicht. Könne ihm das brasilianische Konsulat denn nicht weiterhelfen? Noch nicht. Für einen neuen Pass brauche er seine Geburtsurkunde. Aber ohne Adresse kann sie ihm niemand schicken. Hier wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, zu fragen, ob er einen Briefkasten braucht, aber auf die Idee bin ich nicht gekommen. Unser Haus hat auch außerdem gar keinen Briefkasten wie mir gerade auffällt. Die Briefe kommen einfach unter der Tür durch.
Ivan lebt also auf einmal auf der Straße. Die Nächte seien hart aber ertragbar, weils ja zumindest nicht kalt ist. Dennoch eine gruselige Situation, auf dieser bürokratischen Sandbank gestrandet zu sein und sich die Nächte mit Leuten um die Ohren schlagen müssen, die teilweise schon seit Dekaden nichts anderes mehr gesehen haben. Er habe einige Leute kennengelernt, mit denen er mal ne Mahlzeit teilt, aber Freunde habe er nicht. Nicht weil sie nicht nett seien, sondern weil man sich auf der Straße besser keine Freunde sucht, wenn man morgens nicht ohne Klamotten aufwachen will. Was er denn jetzt am dringendsten brauche, frage ich ihn, nachdem er ablehnt ein paar Sopaipillas mit mir essen zu gehen. Ne Dusche.
Eine halbe Stunde und eine frische Dusche später stehen wir bei uns im Hausflur. Auf einem Zettel hab ich ihm meine Nummer notiert. Er soll mich anrufen, wenn er es zurück nach Brasilien geschafft hat. Wer weiß, vielleicht werde ich ja tatsächlich irgendwann angerufen. Cool fände ichs.
Ivan ist nicht der einzige von der Straße, der sich mit mir unterhalten wollte. Da ist immer diese Frau im Rollstuhl auf dem Weg zur Metro. Sie selbst spricht allerdings nie und hat eine verformte Hand, die sie einem beim Vorbeigehen unkoordiniert entgegenstreckt. Sie saß da immer alleine neben der beschmierten Kirche, bis ich sie einmal mit einem Mann gesehen hab, der sie nach Hause geschoben hat. Er meinte, sie heiße Claudia. Außerdem lief da noch Luis rum, der mit ihr zusammenwohnt und den ich auch nur zum Teil verstehen kann. Er wirkt betrunken, scheint aber ganz nett zu sein.
Wir laufen ein Stück zusammen, aber an dem Abend kann ich nicht wirklich viel über die beiden herausfinden. Luis erzählt mir alle möglichen Dinge, aber nicht das, was ich ihn frage. Ich verabschiede mich, aber schon am nächsten Tag sehe ich Claudia natürlich wieder und hier komm ich das erste Mal so richtig mit ihr ins “Gespräch”. Wie ich herausfinde, kann sie mich nämlich klar und deutlich verstehen. Nur Sprechen geht halt nicht nicht. Aber für alles was mit “Ja” und “Nein” zu beantworten ist, lässt sie ihren Daumen sprechen. Mit der Zeit haben wir ein paar Gesten raus . Dann kommt Luis vorbei. Heute ist er nicht so betrunken und ich kann ihn besser verstehen. Er erzählt mir, wie er Claudia vor Jahren im Winter in einer zugemüllten Ecke gefunden hat, damals ohne Rollstuhl, aber genauso bewegungslos. Da es hier im Juni und Juli nachts auch Minusgrade gibt war es höchste Eisenbahn sie vor der Kälte zu retten. Gemeinsam leben sie jetzt von den Betteleinnahmen, einer kleinen Behindertenrente, die er für sie organisiert hat, und einigen Gelegenheitsjobs, wie z.B. vor der beschmierten Kirche zu fegen.
Ich hole uns Sopaipillas und wir setzen uns auf eine Bank zu einem Mann mit entblößtem Oberkörper. Sein Kopf hängt nach hinten über. Auf der Stirn hat er ein walnussgroßes Geschwür. Er bewegt sich nicht. Einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob er lebt. Dann zuckt er zum Glück. Luis versucht ihn zum Sopaipillaessen zu animieren, aber der Mann bewegt sich immer noch nicht. Ich spreche Luis auf ihn an. Er heiße Sergio und lebe mit ihm und Claudia zusammen. Luis glaubt, er würde nicht mehr lange leben. Plötzlich schwingt Sergio seine Arme umher und fängt an zu schreien und heulen. Unkoordiniert hämmert er mit den Fäusten auf die Bank und brüllt Worte, als würde er mit jemandem streiten.
Ich frage mich, was für ein Leben ihn dahin geführt hat, wo er jetzt ist. Luis flüstert mir zu, dass ihn sein Vater in seiner Kindheit viel geschlagen habe. Das erklärt so einiges. Ich versuche, mir vorzustellen, in was für ein Monster sich diese Jahrzehnte alten Erfahrungen in seinem Kopf mittlerweile verwandelt haben müssen. Luis sagt, wir sollten uns verziehen. Also setzen wir uns ein Stück weiter neben die Straßenverkäufer. Ich finde heraus, dass sich die beiden vor ein paar Jahren kennengelernt haben. Damals sei er noch nicht so krank drauf gewesen. Ich frage, wie sie so leben. Die drei hätten ein Zimmer, nicht weit von hier. Luis scheint nicht unzufrieden zu sein. Sie hätten alles, was sie bräuchten, aber ich könne sie ja mal besuchen kommen, wenn ich wolle. Er würde mir was kochen. Das alles kommt mir mittlerweile echt krass und auch etwas absurd vor. Ich frage mich, ob ich mich darauf einlassen sollte. Andererseits ist Luis ein alter Mann und scheint nichts gefährliches an sich zu haben. Wir verabreden uns also für Freitag.
Am Freitag tauche ich abends auf. Luis hatte schon vergessen, dass wir uns treffen wollten, hat natürlich aber auch nichts anderes vor. Er hängt mit Sergio auf der Bank und leckt geschmolzenes und wiedereingefrorenes Eis am Stiel, das der Eisverkäufer nicht mehr verkaufen konnte. Ich bekomme auch eins. Sergio scheint heute geistig anwesend zu sein, redet sogar mit mir. Wir sammeln Claudia ein. Sie zappelt umher und scheint irgendein Problem zu haben, gibt Würgelaute von sich. Luis fischt ihr ein Stück einer Eisverpackung aus dem Rachen. Krank, wie lange hatte sie das da drin? Niemanden scheint es zu jucken. Claudia fängt an zu rauchen. Das kriegt sie alleine hin. Wir machen uns auf. Der Rollstuhl hat ein gebrochenes Vorderrad, weshalb Luis sie permanent auf den Hinterrädern balanciert. Auf dem Weg grüßt er ungefähr alle zwei Meter irgendwen. Er kennt alle Straßenverkäufer, Ladenbesitzer, den Typen von der Tankstelle und den aus der Fleischerei, weiß, welche Straßenhunde wem gehören und wer neu hier ist. Im Supermarkt holen sie sich jeden Abend zwei Tetrapack Wein. Eins für den Abend, eins für den nächsten Morgen. Wir sind in Begleitung der Hunde Palomo und Chocolate, die aber auch mal verschwinden und später wieder irgendwo auftauchen. Luis hatte selbst den Hunden noch Sopaipilla abgegeben, bevor er sich selbst einen Bissen gegönnt hat. Er demonstriert mir die tiefe Freundschaft zu Palomo, indem er ihn am Hoden packt. Palomo packt ihn an am Arm, beißt aber nicht stark zu. Jedem anderen ramme er ordentlich die Zähne ins Fleisch, behauptet er.

Luis und Sergio, vorne Claudia

Als wir ankommen, stehen wir vor einer Wellblechsiedlung. Hier wohnen auch haitianische Flüchtlinge, teilweise mit ihren Kindern. Manche Hütten haben Strom. In der von meinen drei Freunden gibt es nur Kerzenlicht, aber das ist eigentlich auch ganz gemütlich. “Dafür haben wir ne Klingel!” freut sich Luis und drückt mit dem Zeigefinger in Sergios Geschwür auf der Stirn. Ich soll auf einem der beiden Betten Platz nehmen. Es ist gemacht und überraschend gemütlich. Die Hütte ist insgesamt recht aufgeräumt. Luis zeigt mir die Grillecke hinter dem Haus. Einige zerfledderte Sessel stehen um einen Rost herum. Irgendwann lade er mich mal zum Grillen ein. Jetzt fängt die allabendliche Weinrunde an und ich verabschiede mich. Sergio bringt mich noch ein Stück. Gelegenheit, ihn mal ein bisschen auszufragen. Aber er scheint nicht viel zu erzählen zu haben. Er komme aus einer Stadt im Süden Chiles. Seine Familie habe er mit Anfang 20 verlassen und nie wiedergesehen oder -gehört. Keine Ahnung, ob sein Vater noch lebe, interessiere ihn auch nicht. Damals ist er nach Santiago gekommen. Danach habe er mal hier und da gelebt, in einer Fabrik gearbeitet und dies und das gemacht. Ich frage mich ständig, ob er nicht irgendwie unzufrieden mit seiner Lage ist. Genauso wie Luis wirkt er nicht so. Vielleicht ist er einfach froh, noch zu leben, nach all dem, was er durchgemacht hat. Vielleicht liegt es an meiner beschränkten Perspektive, dass mir sein Leben wie etwas vorkommt, mit dem man unzufrieden sein sollte. Warum sollte er es sein? Weil ich es sein würde, wenn ich jetzt mit ihm tauschen müsste? Was hat das jetzt überhaupt für einen Sinn, meine Meinung auf ein Leben zu projizieren, das nicht mal meins ist? Keine Ahnung, wie es ist, in der Kindheit von den Eltern geschlagen zu werden und ohne großartige Bildung alleine an einen Ort zu kommen, den man nicht kennt. Keine Ahnung, was für Träume man dann hat. Und davon hängt doch Zufriedenheit irgendwie auch ziemlich wesentlich ab. Sergio kaufe ich es komischerweise ab, wenn er mir sagt, dass es ihm gut geht. Er wirkt nicht so, als würde er sich verstellen. Auch nicht manipulativ. Seine Laune scheint nicht davon abzuhängen, ob ich über seine Geschichten staune, die er mir erzählt und genauso wenig davon, dass ich ihm sage, wie schön er heute aussieht oder wie neidisch ich auf alles bin, was er erreicht hat. Es ist richtig erfrischend zu sehen, wie scheißegal ihm einfach jedes Urteil ist; Wie er einfach jede Vorstellung davon, wie (s)ein Leben “zu sein hat” längst über Bord geworfen hat und sich damit mental mal eben komplett unabhängig von der Gesellschaft bewegt. Und wie diese Scheißegal-Haltung nebenbei auch dafür sorgt, dass er sich zumindest während meiner Anwesenheit kein einziges Mal diskriminierend gegenüber irgendwem geäußert hat. Als hätte er es einfach nicht nötig, mitzuteilen, dass sich irgendwer in der Hierarchie unter ihm befindet. Als hätte er sich als Mensch mit seiner Position abgefunden, das narzisstische Kriegsbeil begraben und darüber schon Gras wachsen lassen, das er jetzt regelmäßig mäht.

Nach Hause ist es nicht weit und doch durchschreitet man auf dem Weg Welten. Ein Mix sozialer Schichten, die Seite an Seite wohnen, sich auf der Straße in die Augen schauen, sich freundlich Grüßen und irgendwie doch nichts voneinander wissen wollen. Das Yungay-Viertel: Die antiken Kolonialwohnhäuser, die mit Graffitikunstwerken ins 21. Jahrhundert befördert wurden, die Plaza Yungay, auf der junge Eltern ihre Kinder auf die Rutsche heben, während keine fünfzehn Meter weiter über die Plaza hinweg ein subtiles Blickkontaktspiel gespielt wird, bei dem sich Grasdealer und Kunde hoffen zu begegnen.
Typisch Yungay ist aber auch, wenn man zwischen den alten Häusern noch Recyclings-Girlanden aus Stoffresten aufhängt und das ganze Viertel wie eine Einheit agiert und ein ziemlich gut besuchtes Frühlingsfest organisiert, bei dem jeder mitmachen kann. An jeder Ecke spielt irgendeine Band aus der Nachbarschaft, junge Künstler verkaufen ihre Gemälde, Kunstdrucke und Sticker mit politischen Botschaften, ein Instrumentenbauer seine verrückten Saiteninstrumente und Kalimbas und jemand rollt vor einem mobilen Ofen Pizzateig mit einer Bierflasche aus. Den knartschige Greis, der die Polizei wegen Ruhestörung ruft, scheint es einfach nicht zu geben. Zwei Öko-Omis rauchen ‘ne dicke Tüte. Sie haben sich gegen den Cannabiskuchen entschieden, den ein Bursche auf einem Tablett durch die Menschenmenge balanciert. Ja, Gras ist überall, obwohl es technisch gesehen auch hier illegal ist, aber die Polizei scheint besseres zu tun zu haben, als die Teenies aufzumischen, die sich vor Schulbeginn in aller Öffentlichkeit ne Bong reinziehen. Yungay ist, wenn mich der Obdachlose, der neben unserem Haus seine Hütte aufgebaut hat fragt, wie es meiner gebrochenen Nase geht, über die ich mit ihm schon einige Tage zuvor gesprochen hatte, als ich gerade den Müll in die Tonne werfen wollte, in der er kramte. Yungay ist, wenn man den Straßenhunden eine Hütte baut oder zumindest eine Pappe hinlegt, damit sie nicht auf dem Boden schlafen müssen. Und Yungay ist, wenn man die Nachbarn kennt, obwohl man in einer Großstadt wohnt, weil man sich die Tage beim gemeinsamen Paellaessen im Hinterhof kennengelernt hat.

Containern estilo chileno

Dabei ist Großstadt für Santiago eigentlich gar nicht der richtige Ausdruck. Ein Haufen zusammengeklebter Dörfer, die zufällig durch Straßen miteinander verbunden sind, trifft es eher. Wo immer man sich befindet spürt man den Orbit einer Plaza. Einzelne laute Straßen nehmen die gesamte Verkehrslast auf sich, was den Rest der Stadt in gähnende Stille verfallen lässt. Wolkenkratzer gibt es fast nur im Zentrum. Politisch sind die Viertel zwar alle unter einer Kappe, aber es ist nicht untypisch, dass sich die Bewohner mit ihrem Viertel sehr identifizieren und daraus eine eigene Dynamik entsteht. Hin und wieder erlebe ich die mal, wenn ich den falschen Bus genommen hab und mich infolgedessen an mystischen und neuen Orten wiederfinde. Auf dem Weg zur nächsten Metrostation komme ich dann durch eine merkwürdige Straße, in der sich einfach mal zwanzig Antiquitätengeschäfte befinden. Ich frage mich, wer an an einem Ort, an dem sich bereits neunzehn davon befinden auf die Idee kommt, ein zwanzigstes aufzumachen, aber der Ansatz scheint bei sowas zu sein, sich mit seinem Geschäft an einem Ort anzusiedeln, zu dem Leute kommen, wenn sie Antiquitäten suchen. Man sucht nicht bei sich in der Nähe nach einem Geschäft dafür, sondern fährt halt in die Antiquitätenstraße und findet da dann alles, was gebraucht wird. Und es gibt wirklich für alles mögliche eine Straße: Lampenstraßen, Stoffstraßen, Elektrostraßen, Werkzeugstraßen, Musikinstrumentestraßen. Ich wohne in der Nähe der Straße der Bestattungsunternehmenstraße. Direkt daran angrenzend ist die Motorölstraße gefolgt von der Shampoostraße, die in die Klopapierstraße übergeht. Hier einmal ein kleine Ausschnitt daraus:

Witzige Story dazu:
Letztes Jahr ist aufgeflogen, dass die drei größten Klopapierkonzerne zwölf Jahre lang Preisabsprachen geführt haben. Man nannte sie hierzulande deshalb auch die “Klopapiermafia”. Chile daraufhin so: “Jungs, das geht gar nicht, dafür müsst ihr ne dicke Strafe zahlen.” Haben sie dann auch, aber letztendlich haben ja die Verbraucher darunter gelitten, also hat man beschlossen die Strafe gerecht unter allen aufzuteilen und allen Chilenen 7000 Pesos auszuzahlen, was weniger als 10 Euro sind. Damit war die Sache dann abgehakt, aber die Preise sind natürlich gleich geblieben.

Mit diesem romantischen Kapitalismusauswuchs belasse ich es für heute. Gehabt euch wohl!

Ne, stop! Eine Sache noch: Erinnert sich noch jemand an die Fotos von den Leuten auf dem Bio-Bio vom letzten Mal? Ich hatte die ja ausgedruckt. Einige davon hatte ich auch Mario, meinem Malerfreund gegeben und er hat sie gemalt!

3. Das Leben an der Schwelle – 30. Oktober 2018

Eins Vorweg: Sorry, dass die Seite so lange lädt! Das liegt natürlich an den ganzen Bildern. Ich versuch, ne Lösung dafür zu finden. So los gehts:

 

Die Frau auf dem Weg zur Metro war einfallsreich. Sie steht hinter einem umgebauten Einkaufswagen, hinter den eine Erdgasflasche geschnallt ist, die einen riesigen mit Öl gefüllten Wok von unten beheizt. Daneben ist noch Platz für einen Haufen tiefgefrorener gelboranger Fladen aus Kürbis, Mehl und Butter, die sie der Reihe nach durchfrittiert und dann für 150 Pesos (20 Cent) verkauft. Darin inklusive: Soßen und Pebre (kleingehackte Zwiebeln, Tomaten und Koriander) und ein A6-Bogen Recyclingdruckerpapier als Serviette. In der Preisklasse sind die Sopaipillas als Snack definitiv ungeschlagen. Ihr Sohn kassiert fleißig die Kunden ab. Seit Kurzem taucht sie abends auf dem Nachhauseweg auf und macht den anderen Sopaipillaverkäufern das Geschäft streitig. Der Einheitspreis für Sopaipillas sind nämlich eigentlich 200 Pesos. Das weiß man doch. Vielleicht steht sie deshalb etwas abseits.

Etwas näher am Eingang der Haltestelle sitzt eine Horde lachender Mütter auf Plastikstühlen um einen Haufen selbstgebackenen Kuchen, wie man ihn sonst nur aus dem Weihnachtsbasar der örtlichen Schule kennt.
Streetfood ist die eindeutig entspanntere Methode, zu essen. Von der Entscheidung bis zum ersten Bissen sind es außerhalb der Rushhour vielleicht gerade mal 15 Sekunden, wenn man das Geld klein hat. Sollte man sich erdreisten mit einem 5000-Peso-Schein (<7€) zu bezahlen, kann man vergessen, die nächste Metro noch zu erwischen, denn jetzt muss erstmal Wechelgeld organisiert werden. Im Glücksfall gibt es jemanden, der losrennen kann, zum Nachbarn und sich Geld leiht, ansonsten steht das Geschäft still. Man verdient eben nicht viel durch sowas, aber es ist eine Arbeit, die jeder machen kann und es ist immer noch glücklicher, als sich einen Kasten Snickers zu holen und “Eins für 300 zwei für 500” schreiend durch die Metro zu laufen. Offiziell ist es verboten, von dieses Leuten was zu kaufen. Ein Schild in jedem Wagon weist daraufhin und verlautbart außerdem den kollektiven Boykott von Musikern innerhalb der Bahn. Musik zu machen ist aber laut dem Schild nicht verboten und so tauchen sie dennoch hin und wieder auf und ich Rebell hab mich dabei beobachtet, jetzt erst recht jedem Musiker ein paar Münzen springen zu lassen. Wahrscheinlich eine geschickt platzierte Promoaktion der Straßenkünstlerlobby.
Geld zu machen, ist auf viele Arten und Weisen möglich. Auf der Straße tauchen immer wieder bärtige, alte Männer in Warnwesten auf. Sie hampeln um einen freien Parkplatz herum und versuchen, Autos hineinzuloten. Sie sagen Bescheid, ob beim Einparken noch genug Platz ist und beim Ausparken achten sie darauf, ob die Straße frei ist. Ein sonderbarer Service, der manchmal sicher praktisch ist, häufig aber eher als Abzocke verstanden wird, denn diese Leute tauchen einfach auf, auch wenn man sie nicht gebraucht hat und wollen hinterher ihre Pesos sehen.
Etwas subtiler läuft der Bezahlvorgang dann schon bei den Schlangestehern ab. Dazu ein bisschen Hintergrund: Wenn man als Ausländer nach Chile kommt und einen Perso beantragen will, dann muss man erstmal das Visum registrieren lassen. Das kann man bei einer speziellen Polizeistation im Zentrum von Santiago machen lassen. Man kann es nur dort machen lassen. Das Resultat: Bereits Stunden vor der Öffnung früh morgens stehen Menschen aus allen Ecken der Welt vor der Tür. Ich hab in einem fünfminütigen Spaziergang das Ende der Schlange nicht erreichen können, die sich um mehrere Ecken zog, aber zum Glück gibt es die Schlangesteher, die mitten in der Nacht aufstehen und sich Plätze vorne in der Schlange sichern, nur um sie dann für 10.000 Pesos (13€) zu verkaufen. Ich hab mich dann doch auf diesen dubiosen und doch durchdachten Deal eingelassen und die Frau an der Ecke, die das Geschäft beworben hat drückt mir eine Zigarettenschachtel in die Hand. Ich solle das Geld da reinstecken und mitkommen. Etwas blöd komme ich mir schon vor, als wir bei unserem Ziel ankommen und die Frau ihrem Partner, der auf einem Hocker in der Schlange sitzt erklärt, dass ich dieser “eine Kumpel” sei, auf den sie gewartet hat und die beiden jetzt abzischen können. Ich gebe ihr ihre Zigarettenschachtel zurück und stelle mich peinlich berührt in die Schlange, aber niemand scheint sich darüber zu wundern. Wahrscheinlich haben die alle bezahlt. Nach über zweieinhalb Stunden hab ich dann einen gestempelten Wisch in der Hand, der mich einen weiteren Euro gekostet hat. Mit dem muss ich nun zu nem anderen Büro, dort sagt man mir ich brauche Kopien meiner Unterlagen. Einen Copyshop gäbe es gegenüber. Der Mann in diesem Copyshop scheint den ganzen Tag nichts anderen zu machen, als Reisepässe und Ein-Euro-Wische zu kopieren. Kennt ihr diese Trampelpfade, die abseits von gepflasterten Wegen entstehen, weil dort lang zu gehen viel kürzer ist und die Architekten diese wichtige Route nicht bedacht haben? Genau so fühle ich mich in diesem Copyshop. Die Lage gegenüber vom Bürgerbüro ist für den Typen eine Goldgrube und sie entsteht nur, weil einem auf der Polizeistation niemand sagt, dass man im nächsten Büro Kopien brauchen wird. Jeder kennt seine Aufgabe, aber das ganze Prozedere schaut sich niemand so richtig an und so kommt es, dass ich im nächsten Büro am Empfang meine Kopien vorzeigen muss, dann zu einem Schalter geschickt werde, an dem meine Kopien irgendwie nochmal kontrolliert werden, um dann ins Untergeschoss geschickt zu werden, wo ich eine Stunde an einer Schlange anstehe, die durch einen langen Flur verläuft, bevor meine Kopien ein drittes Mal kontrolliert werden, ich ein zweites Mal etwas bezahlen muss und der Nachname meiner Mutter erfragt wird (?), bevor ich eine Nummer bekomme, mit der ich mich in den nächsten Warteraum setze, von dem aus ich ins nächste Büro gerufen, in dem dann Fingerabdrücke und Fotos gemacht werden bevor ich letztendlich meinen Passierschein A38 in der Hand halte. Nice!

So Dinge, wie dieses Schild in der Metro stehen für mich für einen lächerlichen Versuch in Angesicht von Dingen wie zum Beispiel diesem komplett chaotischen Bürokratieapparat eine Ordnung zu suggerieren. Denn in Chile lebt man an der Schwelle. Wirtschaftlich so stabil, dass man fast denken könnte, man gehöre zu den großen Playern dazu und dann muss man sich schließlich auch so verhalten und wie das auszusehen hat, das wissen hier viele ganz genau: Die USA, nicht nur der große Bruder, sondern auch das große Vorbild. Manchmal hab ich das Gefühl, ein Teil von Chile würde am liebsten die Anker einholen und abzischen Richtung “Gringolandia”, wie meine Mitbewohnerin Fernanda, die USA gerne zynisch betitelt. (Ähnlichen wie “Amiland”)
Aber dann ist da immer noch dieser andere Teil, diese südamerikanische Heimat, für die man sich manchmal ein bisschen schämt, ein bisschen wie für den Nachbarn, der im Vorgarten Waschmaschinen verrosten lässt und Maultrommel spielend auf der Veranda sitzt. Ein ständiges hin und her zwischen Dingen, die ich aus Kolumbien kenne und Dingen, die mir eher aus Deutschland bekannt vorkommen.
Ein Beispiel: Große internationale Marken wie H&M machen sich in der verglasten Innenstadt von Santiago breit vs. ein paar Straßen weiter und eigentlich überall in Santiago außer dort verkaufen Leute Seite an Seite ihre Klamotten auf einem ausgebreiteten Tuch auf der Straße. Fernanda zeigt mir manchmal, was sie dort wieder tolles geschossen hat. Dieses Mal: Einen Pulli vom Latscher Schlittschuhclub auf dem letzten Jahrtausend! Latsch, das ist übrigens eine Ortschaft in Norditalien, wie wir recherchiert haben. Ich würde gerne wissen, was dieser Pulli für eine Lebensgeschichte hat, dass er jetzt in einem chilenischen Kleiderschrank gelandet ist.
Noch ein Beispiel für die Schwelle: Die Frau vor mir bestellt ihren Kaffee mit Stevia. Zur Auswahl steht auch Mandel- oder Hafermilch und es gibt vegane und glutenfreie Empanadas. (Empanada = Mit Käse und Kram gefüllte Teigtasche) Oha, man weiß also nicht nur, was dieses “vegetarisch” bedeutet, sondern kann auch schon vegan und überteuert? Na dann mal schauen, was die Unimensa so drauf hat. Mööp. Zwei Gerichte beide mit Fleisch. Das war wohl nix.
Oder der hier: Viel zu viele Autos auf Straßen und Smok in der Luft, der Trend geht zum Fahrrad. Einige Radwege gibt es schon und Bikesharing ist das neue Ding vs. niemand reagiert im Geringsten auf eine Fahrradklingel. Das Konzept ist einfach noch völlig unbekannt. Die Leute laufen, wo sie wollen und bemerken mich erst, wenn ich sie persönlich anspreche.
Ok einen hab ich noch: Vor ein paar Monaten wurde ein neues Gesetz erlassen, das Plastiktüten nun endlich verbieten soll. Moment gibt es eine Übergangszeit zur Papiertüte, die es an manchen Ecken auch schon gibt. vs. Ich gehe mit dem Jutebeutel einkaufen und werde dabei echt schräg angeguckt, dass ich keine Tüte haben will, denn die sei doch kostenlos.
Die Schwelle ist überall und ich glaube, sie fällt mir nur deshalb so auf, weil meine einzigen beiden Referenzpunkte entwicklungstechnisch darüber und darunter liegen. Dabei tue ich mich immer schwerer vom Begriff “Entwicklung” irgendwas für mich abzuleiten. Ist es komfortabler bei Rewe zehn Minuten an der Kasse anzustehen, obwohl ich nur ein Kilo Mehl brauchte, als eben zwei Blocks weiter zur Tienda gehen und dort auch um halb elf abends noch freundlich begrüßt zu werden? Man mag meinen, dem Ladeninhaber wäre es sicher auch lieber, früher Feierabend zu haben, aber seinem Gesicht und seiner Redelaune nach zu urteilen, gehts ihm besser als der Kassiererin, die mir nichtmal Zeit lässt, meine Sachen einzupacken, bevor sie schon die Nudeln vom nächsten Kunden drüberschiebt. Ist natürlich nicht ihr Fehler, dass der Chef Druck macht und sie X Kunden in der Stunde abkassieren muss, damit sie nicht gefeuert wird, aber dadurch komme ich mir nicht weniger wie eine gesichtslose Entität vor, die sich die fünf Waren mit den EAN-Codes 0669145313309, 4038375025126, 4027109007781, 4104420112148, 3086126654515 ausgesucht hat, keine Deutschlandcard hat und die 6,15€ mit einem 10€ Schein bezahlt hat und deswegen die Münzen 2€, 1€, 50 Cent, 20 Cent, 10 Cent und 5 Cent wiederbekommt. Natürlich gibts hier auch Supermärkte, übrigens größtenteils Tochterfirmen von Wallmart. Hab ich schon den Einfluss der USA erwähnt? Aber die meisten können kein Englisch. Deshalb muss der Prof in der Uni das Video, das er gerade gezeigt hat, auf Spanisch zusammenfassen. Willkommen an der Schwelle. *Zynismus off*

Ein Ort, der von dieser ganzen Beschleunigung bisher noch nicht so viel mitbekommen hat ist der Persa Bío-Bío. Das ist kein Biomarkt, aber mit Markt hat es schon was zu tun. An Wochenenden und Feiertagen öffnet dieser permanente Trödelmarkt seine Pforten und was anderes als Trödeln ist hier eigentlich überhaupt nicht möglich. Auf dem riesigen Gelände finden sich hunderte kleiner Parzellen, von denen die meisten aussehen, als hätte man Opas Dachboden ausgeschüttet und Opa sitzt dann mittendrin und macht so Dinge, wie die Zahnräder aus dieser Kiste der Größe nach zu sortieren, oder den letzten Bauern von dem Schachspiel zu suchen, damit die Partie mit Gonzalo aus der Nachbarparzelle beginnen kann. Währenddessen dröhnt von gegenüber eine kubanische Salsaversion von “Hey Jude”. Ich hab sie auf YouTube gefunden. Wer sich beim Lesen dieses Blogeintrags etwas auditiv in Stimmung bringen möchte, bittesehr:

Hier findet man alles, was nirgendwo anders zu finden ist. Godzilla auf VHS, Reisverschlüsse jeder länge und Breite, gefüllte Stickeralben, die Urlaubdias von einer (wahrscheinlich längst toten) Familie, eine beachtliche Auswahl dieser Tastenblasinstrumente (sie heißen offenbar Melodicas) und jedes beliebige Plastikding, das dir mal irgendwann irgendwo abhanden gekommen ist. Oder vielleicht lieber ein Buch?

Dinge, die weder Rang noch Namen haben und die man nicht beschreiben kann, sondern die einem im besten Fall einfach beim Vorbeigehen bekannt vorkommen. Mindestens genau so interessant, wie die Sachen, sind die Leute, die sie besitzen.


Der da links ist Maximo. Er hockt mit seinem Kumpel Hugo vor einem riesigen Käfig, der vollgestopft ist, mit Lampen jeder Art, die Hugo wohl selbst herstellt. Während ich mich mit Maximo unterhalte angelt Hugo fröhlich Dinge aus seinem Käfig und begutachtet sie sorgfältig. Maximo hatte mir gerade erzählt, dass sein Vater Bildhauer war und den Grabstein von Che Guevara gehauen habe (soweit ich ihn richtig verstanden hab, sein Spanisch ist schon ziemlich abgegriffen), als Hugo plötzlich ein Flinte aus wer weiß welchem Krieg in der Hand hält. Laut Maximo stammt sie von einem von Napoleons Männern. Scheint gut Bescheid zu wissen dieser Maximo!

Später kommt eine Frau vorbei und rät, sie sei aus dem bolivianischen Unabhängigkeitskrieg. Man weiß es nicht. Für etwas unter 100€ könne ich sie erstehen.

Señor Gonzalo verkauft schmucke Schildchen und hat eine Metallwarenbude. Er kommt seit 40 (!!) Jahren jedes Wochenende hierher und sitzt an dieser Ecke.

Ein paar Jahre weniger auf dem Buckel hat Carlos. Und sein Sitz ist auch gemütlicher. Stets als Indiana Jones verkleidet und mit der Fliegerbrille im Gesicht weiß niemand, ob er gerade pennt oder nicht. Aber wenn er wach ist, und eine fremde Kamera sieht, fängt er direkt an zu posen.

Nur damit das klar ist. Er sitzt nicht nur zur Deko da. Auch seine Dinge sind theoretisch zum Verkauf. Das Geschäft liefe schleppend, aber es liefe und wie die meisten hier, macht er das eher hobbymäßig am Wochenende.

Der hier heißt Mario. Als einziger scheint er nicht die ganze Zeit zu chillen, sondern holt hin und wieder mal die Wasserfarben raus und pinselt etwas rum. Auch wir kommen ins Gespräch und schon bald sitze ich in seinem Lädchen und schaue ihm beim Malen zu. Auf dem Bío-Bío hab er erst seit Kurzem sein Atelier, obwohl er schon sein ganzes Leben hier in der Gegend wohnt. Seit der Militärdiktatur habe sich die Mentalität der Menschen verändert. Alle denke jetzt mehr an sich, weniger an andere. Vielleicht ist das eine postdiktatorische Entwicklung und mir erscheint die Mentalität der Menschen hier deswegen so viel näher an der der Deutschen als es in Kolumbien der Fall war? Der Bío-Bío ist jedenfalls auch in dieser Hinsicht eine Zeitkapsel. Die Leute leben hier ihr eigenes Tempo und vergessen gerne mal ganz die Zeit. Die immer wärmer werden Samstagnachmittage kann man hier gut verbringen und auch für mich war es nicht der letzte Besuch. Am nächsten Samstagnachmittag bin wieder hin und siehe da, ich hab sogar alle Leute wiedergefunden, um ihnen ihre Fotos zu schenken. Auf den Bío-Bío ist Verlass.

Ach ja, wer gerne noch mehr Fotos sehen will:

Zum Beispiel von der Mapuche-Demo, die vor ein paar Wochen stattgefunden hat. Man findet mich jetzt auch auf diesem Instagram. Ab geht die Post: Klick!

2. Wer ist wer? – 30. September 2018

Die Letzte Woche war wohl die wichtigste Woche im ganzen Jahr für die Chilenen, denn es war die Woche des 18. Septembers und an diesem Tag hat man dem Spanier vor vielen Jahren den Mittelfinger gezeigt und sich unabhängig von ihm erklärt. An diesem Tag passiert das, was wohl beinahe alle Nationen außer der Deutschen kennen: Nationalstolz ohne schlechtes Gewissen. Aber das nicht, weil Chile keine dunkle Vergangenheit hätte. Im Gegenteil, eine Woche vorher, am 11. September war noch der Volkstrauertag, denn an diesem Tag wurde 1973 der Regierungspalast von den eigenen Streitkräften zerbombt und es begann eine blutige siebzehnjährige Militärdiktatur. Für die Twin-Towers interessiert sich hier also niemand. An dem Tag bekommen Leute sogar häufig früher von der Arbeit frei, aber nicht primär, um zu den Trauerveranstaltungen zu gehen, sondern um sich in Sicherheit zu bringen, denn der 11. September hat sich zu einem Symbol des (gewaltbereiten) linken Aktionismus gewandelt und es wird angeraten, Fenster und Türen geschlossen zu halten und sich nur drinnen aufzuhalten. Die Trauer hält aber eben nicht lange an, denn eigentlich freuen sich ja alle schon auf die Fiestas Patrias. So nennt man die Tage um den 18. September, an denen gefeiert wird und dieses Jahr kamen noch Brückentage dazu und es wurde eine ganze Woche Fleisch und Terremoto draus. Eine Woche mal nicht über soziale Ungerechtigkeit meckern, über den Mindestlohn von umgerechnet 2,60€ (bei ähnlichen Preisen wie in Deutschland) oder Privatisierung von Trinkwasser, sondern das rot-blau-weißen Chile-Merch rausholen und Autos, Häuser, die Cafeteria der Uni, den Kiosk von nebenan und das Gesicht vom eigenen Kind zu beflaggen. Hier mal eine kleine Auswal:

Und mein persönlicher Favorit:

Man bemerke die zweite Flagge auf dem Taxi in Bild 4. Das ist die offizielle Flagge der Mapuche-Indianer, die in Chile und Argentinien immer noch in vergleichsweise großer Zahl leben. Wir wissen: Im 16. Jahrhundert war ganz Südamerika von den Spaniern und Portugiesen besetzt. Ganz Südamerika? Nein, denn das kleine (eher große) Volk der Mapuche-Indianer leistete erbitterten Widerstand und hielt sich solange bis der Staat Chile irgendwann unabhängig wurde und seine eigenen indigene Kultur „beseitigt“ hat. Ja ein schöneres Wort gibt es dafür leider echt nicht. In den Medien wird das eher nicht so aufgeblasen und die meisten Chilenen sprechen nicht viel darüber. In alternativeren Barrios sieht man höchstens mal Mapuche Flaggen oder auch Soli-Graffitis, obwohl jeder Bescheid weiß, dass im Süden auch heute noch Krieg gegen die Mapuche geführt wird, die zumindest irgendein Gebiet haben wollen, in dem sie in Frieden leben können. Währenddessen findet im Parque O’Higgins (dem Centralpark von Santiago, Hauptschauplatz der Fiestas Patrias) eine Militärparade statt. Im Fünfminutentakt donnern Kriegshelikopter und Kampfjets über den Menschenmassen her. Ein tolles Foto für die Instagram-Story!

Ich weiß nicht. Ja, solche Feiertage haben nicht wirklich mehr ihre eigentliche Bedeutung. Die meisten freuen sich sicher einfach nur drauf, in der Fonda (Tanzveranstaltung während der Fiestas Patrias) Cueca (traditioneller Tanz) zu tanzen. Dennoch hab ich das Gefühl, man redet sich ein, eine nationale Identität zu haben, als gäbe es ein „Chile“ mit dem sich alle identifizieren könnten, als wäre man eine Gemeinschaft, die sich von den Menschen anderer Länder abgrenzen könnte. Dabei sind ja offensichtlich nicht einmal alle Menschen die in diesem Land leben Chilenen, wenn man sie vertreiben muss, obwohl sie vor allen anderen hier waren. Am Ende führt sowas einfach nur zu Vorurteilen gegenüber z.B. Flüchtlingen. Als das am weitesten entwickeltes Land in Lateinamerika (laut HDI) ist Chile ein beliebtes Ziel für Leute aus Haiti, wo 2010 das Erdbeben ja alles zerstört hat oder auch Venezuela, das einfach mal komplett auf dem Kopf steht. Über Venezuela weiß ich zu wenig, um das hier zu erklären, allerdings hab ich in der Uni einen Venezolanen kennengelernt, der seit einem Jahr hier lebt und regelmäßig Essenspakete mit Reis, Nudeln und Öl in die Heimat schickt, weil es sowas da einfach nicht zu kaufen gibt.

So. Genug gerantet. Zeit also, mal aus der großen Stadt zu flüchten und irgedwas schönes zu entdecken. Berge! Die schieben mir eh schon die ganze Zeit auf narzisstische Art und Weise ihre knackigen, schneebedeckten Gipfel ins Blickfeld.

*strahl*

Ich hatte mir zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich eine Route zurechtgelegt, die ich aber zum Glück nach weniger als einer Stunde aufgrund einer viel interessanter erscheinenden Abzweigung verlassen hab, auf der mir dann zwei Wanderer entgegenkamen, die mir von diesem tollen Wasserfall erzählt haben. Angeblich gäbe es dort keine „Möglichkeit zum Campen“. Bla bla dieser feuchte Stein direkt neben dem lauten Wasserfall, wo es nachts noch mal 5 Grad kälter ist, als überall anders soll keine optimale Campinggelegenheit sein? Mag sein! Aber die Sonne geht unter und ich hab keine andere Wahl!

Die Luxussuite: Zelt auf einem feuchten Stein!

Die Nacht war echt weird. Zum Schlafen zu kalt, zum wach sein zu müde. Bei Sonnenaufgang hats dann zum Glück geklappt.

Auf dem Rückweg hab ich dann noch eine wichtige Entdeckung gemacht. Kennt jemand diese Regenstäbe, die man in Musikgeschäften findet? Die liegen hier einfach so rum. Es sind tatsächlich einfach nur getrocknete Kakteen!

Das war schön. Kann man ruhig mal öfter machen.

Hab ich dann auch. Bin die ganze Zeit alleine unterwegs, denn die ganzen Menschen aus Santiago sind offenbar alle furchtbar beschäftigt und trauen sich übers Wochenende nicht aus der Stadt. Nicht weiter schlimm einsam bin ich trotzdem nicht, denn ich hab bei dem Versuch, nach Valparaiso (Hafenstadt 100km von Santiago) zu trampen Francisco kennengelernt, Yoga Trainer aus Santiago, der sich grad seine Yoga-Schule in Valparaiso zusammenzimmert. Wir haben zusammen noch ne halbe Stunde winkend an der Straße gestanden, bevor wir resigniert nen Bus genommen haben, dabei soll man in Chile gut trampen können, meinte er, aber eben besser morgens, wenn mehr Leute unterwegs sind. Stimmt! Aufm Rückweg von der ersten Bergtour hat das auch keine fünf Minuten gedauert, bis mich jemand aufgegabelt hat. Er erzählt mir, wie er vor einigen Jahren ohne Geld, Essen oder vernünftiges Zelt losgereist ist, immer per Anhalter in der Natur schlafend und sich von ihr ernährend, ohne überhaupt Wissen darüber zu führen. „Deine Nase lügt dich nicht an und wenn dir doch mal schlecht von irgendwas wird, isst dus halt nicht nochmal.“ Ja hm..wenn ich so drüber nachdenke, fällt mir tatsächlich nichts ein, was lecker riecht und dennoch giftig ist. Fällt jemandem was ein?

In Valparaiso tauschen wir eben Nummer und trennen uns dann. Das Ziel dieses Mal: Las Docas, eine sandige Pazifikbucht! Yeah, Meer!

Geistererscheinungen bei Langzeitbelichtung
Gebucht
Noch mehr Bilder von meinem Zelt. (Aber das Feuer, guck doch bloß, das schön Feuer!)

So sieht Valparaiso übrigens aus.

Ja ich werde wortkarg. Es ist fünf Uhr morgens und ich will das hier endlich absenden. Vielen Dank fürs Lesen. Schöss!

1. Geschüttelt, nicht gerührt. – 7. September 2018

Moin Leute,
Es ist Zeit für meinen ersten richtigen Blogeintrag und das aus gegebenem Anlass, denn heute habe ich ein erstes Mal erlebt, aber dazu später mehr. Ein paar Dinge vorweg: Ich bin gut in Chile angekommen und ich meine angekommen angekommen. Physisch hänge ich ja schon ein Weilchen in diesem 4000km langen Streifen bestehend aus Küste und Bergen am Ende der Welt rum. Wahrscheinlich gibt es keinen einzigen Ort in diesem Land, von dem man nicht entweder die Andenkordillere oder den Pazifik sehen kann. Das hilft ungemein bei der Orientierung in der Stadt, wenn die Sicht nicht gerade wieder durch den Smog versperrt ist. Der Grenzübergang auf dem Landweg war entsprechend spektakulär. Die Grenze zwischen Argentinien und Chile verläuft nämlich genau an den höchsten Punkten der Gebirgskette. Das erste “Bienvenidos a Chile” bekommt man in einem Tunnel auf 3200m zu sehen.

In Santiago konnte ich die ersten Wochen beim lieben Javier und seinem Papa in ihrem gemütlichen Häuschen etwas außerhalb der Stadt unterkommen.

Der Weg zur Uni war aber umständlich und langwierig und deshalb hab ich mir mittlerweile ne andere Wohnung in Santiago organisiert. Die Uni hat direkt ein paar Tage nach meiner Ankunft angefangen und ich muss sagen sprachentechnisch wäre das tatsächlich schaffbar, wenn die Chilenen nicht einfach mal doppelt so schnell sprächen, alle Wörter und Sätze brutalst abkürzten und ihren Slang in diesen Krautsalat mit reinmischten. Ich sitze also heute im Seminar lausche gebannt dem Krautsalat, als plötzlich jemand an meinem Stuhl wackelt. Ich dreh mich um, aber hinter mir saß überhaupt niemand. Und der Stuhl wackelt auch außerdem immer noch. Und der Raum irgendwie auch. Rhythmische Auf- und Abwärtsbewegungen durchfahren alles und bevor mir klar wird, dass das gerade ein Erdbeben ist, hat es auch schon aufgehört. “Temblor” ist der Begriff für diese kleinen Erdbeben, die hier wohl alle paar Monate vorkommen. Tatsächlich war mir vor der Reise nach Chile nicht bewusst gewesen, dass es hier in etwa so viele Erdbeben wir Erdbeeren gibt. Die meisten merkt man nicht und das bisschen Geruckel bringt hier niemanden aus der Fassung, denn die meisten haben 2010 ein Erdbeben der Stärke 9Mw miterlebt. Zum Vergleich: Das stärkste jemals gemessene war Stufe 9,6Mw übrigens auch in Chile, aber schon etwas länger her. Wir hatten heute aber nur 5,1Mw. Tatsächlich haben die sogar einen Drink erfunden und ihn “Terremoto” (Erdbeben) genannt. Der besteht aus Ananassaft und Weißwein und wird jedes Jahr am Nationalfeiertag (und nur dann!) massenweise ausgeschenkt und macht wohl hammer besoffen weil total viel Zucker drin ist und sorgt dadurch für die ultimative Erdbebensimulation á la Nichtmehrgeradelaufenkönnen!

0. Ja moin!

Da wären wir also angekommen in meiner persönlichen Buchstabensuppe. Ich hoffe die Temperatur stimmt soweit und Sie sitzen bequem? Wenn ja, greifen Sie sehr gerne zum Löffel und kredenzen sie sich, was ich hier zusammenzubrauen vermag. Wem die Suppe nicht würzig genug ist, fühle sich frei, seinen Senf (oder andere würzige Dinge ich weiß nicht, wie Senf in einer Suppe schmeckt) dazuzugeben. Dazu bitte auf den weiß unterlegten Titel der entsprechenden Portion Suppe klicken und bis ganz nach unten scrollen. Vielen Dank!

Wie gehts nun erstmal weiter?

Wers bis jetzt noch nicht mitgekriegt hat, es schon wieder vergessen hat oder zufällig über diesen Blog gestolpert ist, folgende zusammenfassende Krümmel Brot zum eintunken: Chile! Auslandssemesterundso!

Die erste Station in Südamerika ist allerdings Buenos Aires, denn da wohnt Fabio, den ich aus Yopal (Kolumbien) kenne. Wen interessiert, was da so geht, kann gerne meinen Blog von damals lesen: Klick! Fabio ist Musiker und auch unter dem Namen ‚El Yopo‘ bekannt. Mit seiner Bandola (Saiteninstrument aus Kolumbien) ausgestattet möchte er den Joropo in der Welt verbreiten. Der Joropo ist die traditionelle Musik seiner Herkunftsregion, des Llano, die er auf neue Weise interpretiert.
Am Samstag wird sein neues und auch erstes Album ‚Llanera Fusion Music‘ veröffentlich und das wird gut gefeiert werden. Passt zeitlich also überraschend gut, dass das Semester in Bremen für mich gestern geendet hat und das in Chile erst im August beginnen wird.
Wer Spotify hat, kann sich das Album übrigens jetzt schon hier anhören und es gibt auch ein paar coole Musikvideos von ihm auf YouTube.
In Buenos Aires werde ich ein paar Wochen mit Fabio unterwegs sein und danach bequem mit dem Bus rüberfahren nach Santiago, wo auch meine Uni ist und wo auch der gute Javier wohnt, dessen Nummer ich von Laura aus Bremen hab, die auch mal in Chile studiert hat. Bei Javier kann ich auch für Anfang erstmal pennen und das wird eine große Hilfe sein, um dort Fuß zu fassen und nicht komplett verloren zu sein. Danke Laura! 😀

Die besagte Uni ist die ‚Universidad de las Artes, Ciencias y Comunicación‘ über die ich nicht viel weiß, außer dass ich dort ‚Comunicación Audiovisual, Cine‘ studieren kann. Aber das ist ja eigentlich auch das Wichtigste.

Nächstes Update gibts dann hoffentlich aus Argentinien!
Chaka

Achso ja noch eine Sache: Ich versuche mal wieder so einen E-Mail Newsletter hier einzubinden wie letztes Mal, damit man das hier auch abonnieren kann. Wer Telegram hat, kann aber auch einfach in diesen Kanal kommen. Da kriegt ihr dann ne Benachrichtigung aufs Handy wenn ich hier was neues veröffentliche.